Musik und Tanz in Indien: Ragas und Raginis

Musik und Tanz in Indien: Ragas und Raginis
Musik und Tanz in Indien: Ragas und Raginis
 
Die Kunstmusik Indiens zeichnet sich durch besonders komplexe und ausdrucksstarke Melodien aus und die vielfältigsten und am kompliziertesten strukturierten rhythmischen Systeme der Welt. Eine zentrale Stellung in der indischen Musik nehmen die Ragas ein. Der Begriff Raga stammt aus dem Sanskrit. Er bedeutet wörtlich »Färbung« und steht für Melodiemodelle, die bei ihrem Erklingen das Gemüt des Menschen mit einer besonderen Stimmung »färben«. Bei einem Raga sind die Töne (mindestens fünf müssen es sein) für den Aufstieg und für den Abstieg festgelegt. Außerdem ist die Hierarchie, in der die Töne zueinander stehen, vorgegeben wie auch die Art der Verzierungen. Der wichtigste und den Ausdruck prägende Ton innerhalb der Tonleiter heißt Amsha Svara (= vorherrschender Ton). Er wird auch Vadi (= Verkünder) oder Jiva (= Seele) genannt und seine Stellung wird mit der eines Königs verglichen. Als dessen Minister gilt Samvadi (= konsonanter Ton), als sein Vasall Anuvadi (= assonanter Ton), als sein Feind Vivadi (= dissonanter Ton). Innerhalb der indischen Leiter Sa, Ri, Ga, Ma, Pa, Dha, Ni ist jedem Ton ein Gefühl zugeordnet. Diese Vorstellung rührt aus der Textrezitation in der alten Theaterpraxis her, in der einzelne Töne Träger bestimmter Stimmungen waren. So verbindet man Ma und Pa mit Liebe und Heiterkeit, Ma auch mit Ruhe und Frieden, Sa und Pa mit Mut, Wut und Verwunderung, Ni und Ga mit Mitleid, Dha mit Ekel und Furcht. Die Stimmung, die der Raga vermittelt, entspricht den vorherrschenden Tönen. Nach indischen Vorstellungen ist die Wirkung der Ragas auf die Seele des Menschen so überwältigend, weil sie göttlichen Ursprungs sind. Es gibt Ragas für alle Schattierungen menschlicher Gefühle und sie können Tages- und Jahreszeiten, Gestirnen, bestimmten Göttern aus dem Hindu-Pantheon und vielem mehr zugeordnet sein.
 
Die Ragas teilt man nicht nur nach musiktheoretischen Gesichtspunkten ein, sondern es hat sich auch die Tradition eingebürgert, sie zu personifizieren und in Familienverwandtschaften zueinander zu stellen. Dabei sind die Ragas die Hauptmelodien und männlich, die Raginis die Nebenmelodien und weiblich. Manche Überlieferungen binden auch noch Söhne (Putras) als Abkommen der Ragas mit ein. In den westlichen Himalaya-Vorbergen ist ein System verbreitet mit 6 Raga-Fürsten, die je einen Harem mit 6 Raginis unterhalten. Jedem Raga werden acht Söhne geboren, sodass der Kreis auf 84 Mitglieder anwächst.
 
Seit dem 15. Jahrhundert n. Chr. stellt man personifizierte Ragas und Raginis bildlich in indischen Miniaturen dar. Dabei werden Stimmungen, wie sie den Musiker oder seinen Zuhörer beim Erklingen einer bestimmten Melodie erfassen, in für das Auge sichtbare Darstellungen umgesetzt. Die Lehre der Synästhesien, die besagt, dass man akustische Eindrücke auch optisch wahrnehmbar machen kann, hat die indische Musikphilosophie schon sehr früh herausgestellt. Insgesamt kennt man in der indischen Musikgeschichte die Namen von etwa 10 000 Ragas. In der heutigen Musikpraxis sind im Norden wie auch im Süden etwa hundert Ragas in Gebrauch.
 
Von den vier Hauptbüchern der Vedas (geschrieben 1500-600 v. Chr.), »Rigveda«, »Samaveda«, »Yajurveda« und »Atharvaveda«, ist für die Musik der »Samaveda« der wichtigste, da in ihm die Texte als Gesänge geordnet sind und sich in den später hinzugekommenen Gesangbüchern (Gana) in Form von Ziffern und Buchstaben sogar Hinweise auf die musikalische Ausführung der rezitationsartigen Gesänge finden. Die älteste systematische Beschreibung der indischen Musik liegt im Lehrbuch der Theaterkunst »Natyashastra« (1. Jahrhundert v. Chr.) von Bharata vor. Es behandelt das indische Drama als Gesamtkunstwerk und widmet der sakralen und profanen Kunstmusik Indiens sechs Kapitel. Bereits Bharata zerlegte die Oktave in 22 Shruti, die kleinsten hörbaren Mikrointervalle, und unterschied zwischen Halbton mit 2, kleinem Ganzton mit 3 und großem Ganzton mit 4 Shruti.
 
Das Abschlusswerk aus der rein hinduistischen Epoche ist das »Samgitaratnakara« (= Ozean der Musik) von Sharngadeva (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts). Von dieser Zeit an nahm die Entwicklung der Hindustani-Musik Nordindiens und Pakistans einen anderen Verlauf als die der karnatischen Musik Südindiens. Der Norden geriet unter den Einfluss des Islam und der arabisch-persischen Musik, während der Süden die alten Überlieferungen weiterführte.
 
Neben dem Raga ist der Tala (wörtlich Klatschen, Schlagen) das zweite beherrschende Prinzip in der indischen Musik. Möglicherweise aus dem Handklatschen zu Gesang und Tanz hervorgegangen, gibt er das Zeitmaß für die Melodien vor. Eine Tala-Periode, an der sich auch die Melodie-Periode orientiert, setzt sich aus einer vorgegebenen Zahl von Matra (= Maß) zusammen. Die Zahl dieser durch Schläge markierten Zählzeiten in einem Tala variiert zwischen 2 bis 112 Matra. Der im Norden besonders häufig gespielte Tritala hat 16 Schläge. Jeder Trommelschlag erzeugt einen bestimmten Klang, der mit einer lautmalenden Silbe wiedergegeben werden kann. So ist es möglich, ein Trommelstück mithilfe der Trommelsilben auch zu sprechen oder niederzuschreiben. Während in Nordindien zahllose Talas nebeneinander existieren, derzeit etwa 360, hat man diese im Süden geordnet: 7 Grundgestalten mit jeweils 5 Abarten ergeben 35 Talas als Ausgangsformen.
 
An Musikinstrumenten finden sich bereits in der Industal-Kultur (2100-1500 v. Chr.) drei- und viersaitige Bogenharfen und Rahmentrommeln. Sie lassen eine gewisse Übereinstimmung mit mesopotamischen Instrumenten nicht leugnen und auf einen kulturellen und wirtschaftlichen Austausch zwischen Nordindien und dem Zweistromland schließen. Eine Klassifikation der Musikinstrumente liegt schon bei Bharata vor, interessanterweise ähnlich den vier Gruppen Selbst-, Fell-, Saiten- und Luftklinger, die westliche Theoretiker Ende des 19. Jahrhunderts vornahmen.
 
In der klassischen indischen Musik gibt es keine größeren Ensembles. Den höchsten Rang nehmen Gruppierungen mit einem Gesangssolisten ein. Ein Streich- (Sarangi in Nord-, Violine in Südindien) oder Zupfinstrument (im Norden die Langhalslauten Sitar oder Sarod, im Süden die Stabröhrenzither Vina) umspielt die Melodie. Alle genannten Instrumente und auch Flöten können, wenn der Gesang wegfällt, solistisch den Hauptpart übernehmen. Hinzu kommt immer die viersaitige Langhalslaute Tambura. Ihre leeren Saiten werden fortwährend angezupft und ergeben einen Bordunklang aus Grundton und Quinte oder Quarte, der einen ständigen Bezugspunkt zum Grundton gewährleistet. Ohne Trommel ist kein Ensemble denkbar. Im Norden setzt man am häufigsten das Trommelpaar Tabla ein, im Süden die Röhrentrommel Mridanga. Einen Gegensatz zu diesen Kammermusik-Ensembles mit eher verhaltenen Klängen bilden in Südindien kleine Orchester mit den Oboen Nagasvara und Ottu und den Röhrentrommeln Tavil. Sie spielen zu Opferzeremonien in Tempeln, zu Umzügen und Hochzeiten.
 
Eine wichtige Funktion der Instrumentalensembles besteht in der Begleitung von Tänzen. Die klassischen Formen sind alle von der Bharata-Natya-Tradition beeinflusst, können aber dennoch in ihren Bewegungsabläufen, Kostümen und der begleitenden Musik mehr oder weniger stark lokal gefärbt sein wie zum Beispiel Odissi, der Tanzstil, der seinen Ursprung im Osten Indiens hat, im heutigen Bundesstaat Orissa, oder auch Manipuri aus dem Nordosten des Subkontinents. Kathak, der klassische Solotanz Nordindiens, geht in seiner Bezeichnung auf Erzählungen (Katha) aus der Hindu-Literatur zurück, die man tänzerisch ausdeutet. Eine ganz besondere Ausstrahlungskraft entfaltet das Maskenspiel Kathakali (= Erzählspiel) aus Kerala, in dem zumeist Szenen aus den großen Epen »Mahabharata« und »Ramayana« zur Aufführung kommen. Die Tänzer tragen plastische Gesichtsmasken und sehr prunkvolle Kostüme und Kopfbedeckungen. Das aufwendige Schminken der Darsteller ist auch ein Ritual, bei dem sich diese in die Figur ihrer Rolle verwandeln und dann nur noch mit ihrem Götternamen angesprochen werden. Verwandt mit Kathakali sind die Maskenspiele Krishnatta (= Spiel für Gott Krishna) und Yakshagana (ausgehend von Gesängen für die halbgöttlichen Yakshas). In Verbindung zu Frühlingsriten stehen die Chau-Tänze Ostindiens. Nach ihren heimischen Regionen benannt, unterscheidet man die drei Stile Purulia (Westbengalen), Seraikela (Orissa) und Mayurbhanja (Bihar). In Purulia und Seraikela tragen die Tänzer Masken aus Holz, Ton oder Pappmaschee, in Mayurbhanja hingegen sehr plastisch wirkende Schminke.
 
Da die Kunstmusik in Indien bis heute das Privileg der höchsten Kasten ist und nur von gelehrten Kennern verstanden und geschätzt werden kann, pflegte man zu allen Zeiten in den verschiedenen Sprachgebieten eine lebendige, zum Teil ganz eigenständige, zum Teil von der klassischen Musik beeinflusste Volks- und Stammesmusik mit einer unüberschaubaren Zahl von Trommeltypen und lokalen Tanzformen.
 
Dr. Gretel Schwörer-Kohl
 
 
Sivaramamurti, Calambur: Indien. Kunst und Kultur. Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Oskar von Hinüber. Freiburg im Breisgau u. a. 41987.

Universal-Lexikon. 2012.

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